Das Eidechsenkind von Vincenzo Todisco
Drei Mal klopfen bedeutet, dass das Kind nicht im Korridor sein darf und in der Stanza in forno verschwinden soll. So lernt das widerrechtlich in der Schweiz lebendes Kleinkind italienischer Gastarbeiter unentdeckt zu bleiben. Es schleicht sich, eidechsenartig, von Zimmer zu Zimmer, versteckt sich hinter Vorhängen, unter dem Tresen, im Wäschekorb oder im Kleiderschrank.
Im Dunkeln, manövriert das Kind in der Wohnung herum, indem es die Schritte zählt. Es hat gelernt, dass die Nacht mehr als tausend Schritte lang ist. Es kann sie unmöglich alle zählen, denn auf jeden fünfigsten Schritt folgt ein Albtraum. Immer dieselben hässlichen Gestalten finden den Weg zum Kind, allen voran die Wölfe. Die Madonnina von Nonna Assunta, obwohl sie in Ripa geblieben ist, sorgt dafür, dass das Kind sich in den Träumen nicht verirrt.
Eines Tages wird es von Fieber geplagt. Die Mutter gibt an, es sei ihren Husten, den der Hauswart hört. So weiss niemand von seiner Existenz.
Als es grösser – und etwas mutiger – wird, entdeckt das Kind ein Kasten im Treppenhaus, von wo aus es die anderen Mieter beobachten kann. Dann baut es sich ein geheimes Kämmerlein im Dachstock, wo es sich tagelang zurückzieht.
Begegnungen und Pläne
Den kalten Jungen mit dem blassen Gesicht; den faulen, dicken Carlos; die alte Geigenspielerin, die zauberhafte Musik spielt; die gleichaltrige Emmy, mit der es Verstecken spielt; den pensionierten Professor mit den tausenden faszinierenden Büchern; die reizende Blondine – Stangona genannt, weil sie so gross ist – die bei ihm feuchte Träume auslöst – diesen und anderen Mitbewohnern begegnet das Kind über die Jahren, bevor es sich als Teenager nachts allein aus dem Haus oder später sogar offen auf die Strasse wagt.
Verstört wächst es auf, möchte heimlich mit der ausgeflippten Emmy nach Spanien reisen, anstatt mit den Eltern zurück in die alte Heimat zu kehren. Aber es getraut sich nicht, sich von den einsperrenden aber schützenden, eigenen Wänden zu lösen.
Bevor sie ausreisen können, stirbt der Vater. Und dem Kind – inzwischen als Junge entlarvt – platzt der Blinddarm.
Beurteilung
Todisco ist Meister, das Empfinden und die Gedanken eines Kindes verschiedenen Alters sehr anschaulich darzustellen. Auch allen Mitspielern – und es sind viele, die zum Teil nur kurz anwesend sind – begegnen wir sehr lebhaft und eigenartig. Unsere Gefühle – von Spannung bis Mitleid – werden durch die traumatische Entwicklung des Eidechsenkindes aufgewühlt. Einzig der Schluss des Buchs war für mich unbefriedigend.