Die Enkelin, von Bernhard Schlink
Diese Erzählung erinnert mich an die schwer verdauliche Bibelstelle: “Der HERR … sucht heim die Missetat der Väter über die Kinder ins dritte und vierte Glied.” (4. Mose 14:18). Kann es sein, dass die Hauptfigur dieser Geschichte tatsächlich ein Opfer des Fehlverhaltens ihrer Vorfahren ist?
Und gibt es wirklich Menschen, die in einer derart hoffnungslosen, vorprogrammierten Lebensbahn gefangen sind, aus der sie nicht ausbrechen können?
Die Grossmutter
Die junge Birgit war überzeugte Kommunistin in der damaligen DDR. Bis sie sich in einen idealistischen Westler verliebt und heimlich in die Freiheit flieht. Was sie ihrem anständigen, liebevollen Gatten Kaspar verschweigt, ist, dass sie bereits ein Kind hat; ein Kind, das sie nie gesehen hat und aus ihrem Leben völlig ausschliessen wollte.
Birgit probiert dies und jenes aus: studieren, meditieren, Kunst, – sogar ein Aufenthalt bei einem Guru in Indien – auf der Suche nach einem Sinn im Leben. Vergeblich. Sie will einen Roman schreiben, kommt aber auch damit nicht voran. Sie beschliesst, ihre Tochter doch noch aufzusuchen und dokumentiert insgeheim ihre ersten Schritte auf diesem Weg. Findet aber nicht den Mut, aufzubrechen und hinzugehen. Sie fängt an zu trinken und ertrinkt schliesslich elendig in der Badewanne.
Kaspar findet ihre Aufzeichnungen erst zu spät und entdeckt dabei, wie wenig er seine Frau gekannt hat.
Die Mutter/Tochter
Birgits Tochter gibt es tatsächlich. Svenja heisst sie. Als Kind, lebt sie bei ihrem leiblichen Vater, einem bürgerlichen, verheirateten Bezirkssekretär, der sie streng erzieht. Sie bricht aus, fängt an zu randalieren und gerät in Schwierigkeiten mit der Polizei. Ihr Vater weist sie in den geschlossenen Jugendwerkhof Torgau ein.
Was geschah danach mit ihr? Auf der Suche nach Svenja folgt Kaspar jedem noch so spärlichen Hinweis.
Die Fahrt durch den Regen, die Tropfen, die an der Scheibe herabliefen, schnell oder langsam, in kürzerer oder in längerer Spur – es machte Kaspar traurig. Manche Tropfen blieben klein, andere verschmolzen miteinander und wurden gross, alle wurden früher oder später vom Wind fortgeweht. Natürlich wusste er, dass die Tropfen nicht die Vergänglichkeit und Vergeblichkeit des Lebens offenbarten. Sie offenbarten auch nicht, dass Menschen ihre Wege nehmen und nicht zueinanderfinden, wenn der Wind des Schicksals sie nicht miteinander verschmilzt. Und doch quälte ihn alles dies. Er war auf Svenjas, aber auch auf Birgits Spuren, er wusste nicht, ob er Svenja tatsächlich näher kam, er wusste nur, dass Birgit ihm entrückte.
Kaspar, S. 157-8
Svenjas Freund aus der Zeit in Torgau, Raul, der jetzt einem anständigen Beruf nachgeht, berichtet:
Sie hat Drogen genommen und Schwule und Ausländer verprügelt und auf der S-Bahn und auf Zügen gesurft, sie hat Sachen gemacht, die man nicht unbedingt überlebt.
Raul, S. 159-162
Sie hat zu den Rechten gefunden, nicht wegen der Politik, sondern wegen der Gewalt; sie wollte kaputtmachen, gemacht hat. Ich war der Spiesser und sie die Rebellin.
Svenja war echt … Svenja hat nicht aus Sattheit rebelliert, nicht aus Langeweile und weil es schick ist und sich damit angeben lässt. Sie hat es ernst gemeint und dafür bezahlt …
Die Polizei weist Kaspar auf eine völkische Gruppe, die ein national befreites Dorf aufbauen wollte. Die Spur führt in den Osten. Schliesslich findet er Svenja Renger, mit einer Teenager-Tochter, Sigrun. Ihr Mann Björn ist extrem gierig und rechtsradikal; die Frauen haben nichts zu sagen. Mit dem Versprechen, Birgits – imaginäres – Erbe aufzuteilen, vereinbart Kaspar, dass Sigrun während der Schulferien ihn, ihren Stiefgrossvater, in Berlin besuchen darf.
Die Enkelin
So kommt es auch. Mehrfach. Kaspar besorgt für Sigrun eine Reihe von Kinderbüchern. Aber sie will über Nazis lesen, findet, Hitler habe Deutschland stark gemacht. Sie verleugnet den Holocaust. Obwohl sie keine kennt, hasst und fürchtet sie alle Ausländer, Muslime und Linke. Sie trifft sich mit ihrer ehemaligen Freundin, Irmtraud, die bei den Autonomen ist und sich ein silbernes Hakenkreuz ins Ohr stechen liess. Kaspar – bürgerlicher Buchhändler, Kirchenmitglied, der nicht an Gott glaubt – ist empört über ihre rechtsextremen Ansichten. Er befürchtet, sie wurde indoktriniert und konnte sich keine eigene Meinung bilden. Wie kann er sie ‘retten’?
Sie besucht gern klassische Konzerte mit ihm und gewinnt eine Leidenschaft für Klaviermusik. Er vermittelt sie an Birgits Klavierlehrer. Täglich geht sie zu ihm in den Unterricht. Kaspar kauft ihr ein elektronisches Klavier für zu Hause, auf dem sie über Kopfhörern üben kann.
Dann findet Björn in Sigruns Gepäck ein skandalöses Buch: die Abrechnung einer jungen Frau mit ihren rechten Eltern und dem rechten Milieu, in dem sie aufgewachsen war und aus dem sie schliesslich herausgefunden hatte. Sigrun gibt nicht zu, dass sie sich das Buch selber ausgesucht und mitgebracht hatte. Er brüllt Kaspar an:
“Ich wusste, dass du die Lügenpresse liest und für die Schuldkult bist und zu den Willkommensklatschern gehörst. Du hasst Deutschland. Selbsthass ist das, krank ist das. Du hast keine Ehre im Leib. Aber ich dachte, du hast Achtung vor der Familie. Sie ist was zwischen Vater, Mutter und Kindern, und man lässt sie und wurmt sich nicht rein und beisst sich nicht fest.” Björn stand immer noch, die Hände auf dem Buch, und sah Kaspar verächtlich an. “Ihr habt keinen Respekt, vor nichts habt ihr Respekt, nicht vor Deutschland und nicht vor denen, die Deutschland dienen, den Lehrern und den Beamten und den Soldaten und den Bauern. Ihr macht euch über sie lustig. Alles, was ihr könnt, ist euch selbst verwirklichen, ihr hascht und kokst, seid durch die Institutionen spaziert und habt euch die Stellen und das Geld zugeschanzt. Familie? Ja, wenn’s eine Einelternfamilie, eine Flickwerkfamilie, eine Schwulenfamilie ist, sonst freie Liebe. Gesunde Familien kennt ihr nicht …”
Björn, S. 316
Die Folge
Der Kontakt zwischen Kaspar und Sigrun wird abgebrochen. Zeit für Nachsinnen bei Kaspar.
Und plötzlich erscheint sie wieder. Nachts um halb zwölf. Sie lebte mit Irmtraud zusammen und nahm an einer Schlägerei gegen Linke teil, bei der jemand erschossen wurde. Nun ist sie völlig aufgewühlt. Sie flüchtet zum Klavier. Soll sie der Polizei alles gestehen? Dann wäre sie als Ratte bei ihren Freunden in Lebensgefahr.
Kaspar macht sich Sorgen für sie. Aber auch für sich selber. Er überlegt: Soll er sich eine neue Frau suchen? Seine ersten Versuche sind nicht sehr vielversprechend.
Sigrun nimmt das Angebot ihres Grossvaters an, das Konservatorium zu besuchen, nachdem der ganze Ärger endlich vorbei ist. Sie spricht mit einem Anwalt und beschliesst, sich dem Staatsanwalt zu stellen.
Aber sie tut es nicht. Mit Kaspars Kreditkarte verschwindet sie. Und taucht nach einigen Monaten in Australien auf. Kaspar – aber auch Svenja – verlieren den Kontakt zu Sigrun.
Das Buch ist brillant geschrieben, die Persönlichkeiten wirken echt, lebendig, glaubwürdig. Ein Detail: Nirgendwo wird Sex thematisiert; das hat mich überrascht, aber gefreut. Nur, das Ende fand ich unbefriedigend. Kann ein Leben wirklich so verzerrt sein? Und dann einfach verpuffen? Anscheinend, ja.