Nochmals aus C.S. Lewis “Das Gewicht der Herrlichkeit”, 1944, Brunnen Verlag:
« Lassen Sie mich ein Märchen erzählen. Eine Frau wird in einen Kerker geworfen. Dort gebiert sie einen Sohn. Sie zieht ihn auf; er wächst heran und sieht tagaus, tagein nichts anderes als die Kerkerwände, das Stroh auf dem Boden und ein kleines Fleckchen Himmel, das ganz oben durch das Gitter zu sehen ist. Nichts weiter. Diese unglückliche Frau ist eine Künstlerin, und es war ihr, als sie gefangengenommen wurde, gelungen, einen Zeichenblock und eine Schachtel Bleistifte mit in den Kerker zu schmuggeln. Da sie die Hoffnung auf ihre Befreiung nie aufgibt, erklärt sie ihrem Sohn ständig, wie die Aussenwelt aussieht, die er nie gesehen hat. Sie tut das, grösstenteils, indem sie ihm Bilder zeichnet. Mit ihrem Stift versucht sie ihm zu zeigen, was Felder, Flüsse, Berge, Städte und Wellen am Strand sind. Er ist ein gehorsamer Junge und bemüht sich nach Kräften, ihr zu glauben, wenn sie ihm erzählt, die Aussenwelt sei sehr viel interessanter und prächtiger als alles im Kerker. Manchmal gelingt es ihm. Im grossen und ganzen kommt er recht gut voran, bis er eines Tages eine Bemerkung macht, bei der seine Mutter stutzt. Für ein oder zwei Minuten reden sie aneinander vorbei. Bis es ihr schliesslich dämmert, dass er sie all diese Jahre hindurch missverstanden hat:
“Aber”, bringt sie mit Mühe heraus, “du hast doch nicht geglaubt, dass die wirkliche Welt voller Bleistiftstriche ist?” “Was”, sagt der Junge, “es gibt keine Bleistiftstriche?” Und in einem einzigen Augenblick bricht seine ganze Vorstellung von der Aussenwelt wie ein Kartenhaus zusammen. Denn die Linien, mit deren Hilfe allein er sie sich vorstellen konnte, sollen auf einmal nicht mehr da sein. Er hat nicht die leiseste Idee von all den Dingen, die ohne Linien auskommen, die durch die Linien nur umgewandelt wurden – die schwankenden Wipfel der Bäume, Licht, das auf einem Wehr tanzt, die farbigen, dreidimensionalen Wirklichkeiten, die nicht in Linien eingeschlossen sind, sondern ihre Form in jedem Augenblick mit einer Genauigkeit und Vielfalt neu bestimmen, die keine Zeichnung je wiedergeben könnte. Das Kind wird zu der Auffassung kommen, die reale Welt sei weniger sichtbar als die Bilder seiner Mutter. Aber in Wirklichkeit fehlen ihr die Linien, weil sie unvergleichlich sichtbarer ist.
Genauso geht es uns. “Wir wissen nicht, was wir sein werden”; aber wir dürfen gewiss sein, dass wir mehr, nicht weniger sein werden als auf der Erde. Unsere natürlichen Erfahrungen (durch Sinne, Gefühle und Phantasie) sind nur wie die Zeichnung, wie Bleistiftstriche auf einem flachen Blatt Papier. Wenn sie im auferstandenen Leben verschwinden werden, dann so, wie die Bleistiftstriche in der realen Landschaft verschwinden; nicht wie eine Kerzenflamme, die ausgeblasen wird, sondern wie eine Flamme, die man nicht mehr wahrnimmt, weil einer den Vorhang aufgezogen und die Fensterläden aufgestossen hat und nun die Strahlen der aufgehenden Sonne hereinströmen. »
aus “Umwandlung (Transformation)”