Jesus – eine Weltgeschichte II

Der Meisterplan

Die Suche nach dem Schöpfer der Welt.

  1. Hesekiel: Der Himmel geht auf

Es wird nicht um eine blosse Verbesserung der Verhältnisse gehen, sondern einen totalen Neuanfang, eine Erlösung

Gott verspricht einen neuen König, nämlich seinen Knecht Davids, den berühmtesten aller israelitischen Könige, der allerdings seit fast vierhundert Jahren tot ist. Offenbar soll einer seiner Nachkommen den Neuanfang bringen.

In der neuen Zeit sollen die Menschen sich nicht mehr wie früher an Anweisungen von oben orientieren, sondern einer inneren Herzenseinstellung folgen, von einem neuen Geist geleitet werden, in einem neuen Tempel Gott anbeten. Von diesem Tempel aus sollen Ströme lebendigen Wassers über das umliegende Land fliessen. Israel soll dann endlich die ihm zugedachte Aufgabe erfüllen und zur Lebensader und zum Licht der Welt werden: «Alle Völker sollen sehen, dass ich, der HERR, ein heiliger Gott bin. Das verspreche ich euch. Ich hole euch zurück aus fernen Ländern und fremden Völkern und bringe euch in euer eigenes Land. Ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist geben!»

Aus christlicher Sicht laufen die prophetischen Fäden, die Hesekiel spinnt, erst in Jesus zusammen, dem Mann auf dem himmlischen Thronwagen, dem Mann mit der Steintafel, dem Knochenfeld, das sich zu einem Heer formiert, dem guten Hirten, dem aufrechten Weinbergbesitzer, dem Davidsohn.

Gottes Werk ist mit der Schöpfung nicht zu Ende,

  1. Mose: Gott stellt sich vor

Der Mensch ist das erzählende Wesen. Die anthropologische Klugheit der Bibel zeigt sich daran, dass sie die Welt erzählt und nicht analysiert. Bei den Israeliten ist die Welt eine grosszügige Gabe Gottes, in der die Menschen sich wohlfühlen und sich kreativ betätigen sollen.

Am Anfang des Malheurs steht der fatale Versuch, gottgleiche Weisheit zu erlangen und sich vom Ursprung des Seins unabhängig zu machen.

Die biblische Urgeschichte dreht den Spiess um. Die Starken sind die Bösen. Was an den biblischen Schriften beeindruckt, ist der Realismus.

Für die Geschichte Israels gilt dasselbe wie für die Schöpfung und das Leben Jesu: Es sind Zeichen Gottes an die Welt. Die Übermächtigen… hinterlassen im Vergleich zur Schneise, die Israel in die Geschichte schlägt, nur Trampelpfade.

Gottes Herz schlägt mit den Schwachen. Abram ist kein machtvoller Herrscher wie der ägyptische Pharao und kein Superheld wie die zeitgenössische Fantasiefigur Gilgamesch.

Irreführend ist die Übersetzung «Gebot» oder gar «Gesetz». Bei den göttlichen Weisungen handelt es sich um keinen Strafrechtskatalog, den ein Machthaber seinen Untertanen gibt, sondern um die Regeln, die ein liebevoller Vater seinen Kindern auf den Weg gibt, um ihnen ein erfülltes Leben zu ermöglichen. Die Massregel «Auge um Auge, Zahn um Zahn» ist nicht die Einladung zum blindwütigen Faustrecht, sondern sorgt dafür, dass Vergeltungsmassnahmen verhältnismässig sind und sich nicht auf unschuldige Dritte ausweiten.

Schwer nachvollziehbar ist im hyper-individualistischen 21. Jahrhundert auch der kollektivistische Charakter der Tora. Sie richtet sich an ein ganzes Volk. Das pädagogische Ziel ist die Entwicklung einer intakten, fürsorglichen, exemplarischen Volksgemeinschaft. Es geht nicht um die Perfektion jedes einzelnen Israeliten, schon gar nicht um privates Seelenheil. Von einer Vergeltung im Jenseits ist nirgendwo die Rede.

Korrekt heisst es: «Ihr seid abgesondert, denn ich, euer Gott, bin abgesondert.»

  1. Josua: Der Mann, der so hiess wie Jesus

Hinter der Beschreibung der Landeinnahme stehe die Botschaft, dass Israel sich radikal von den heidnischen Praktiken der Kanaaniter absondern solle.

Vielleicht gibt es auch gar keine zufriedenstellende Erklärung für die gewalttätige Inbesitznahme des gelobten Landes, und Bibelleser müssen sich selbst einen Reim auf den Kontrast machen: 

  • Zwischen der Einnahme des Gelobten Landes unter Josua und der Etablierung des Reichs Gottes unter Jesus
  • Zwischen einer Invasion des Landes, bei der das Blut der Feinde fliesst, und einer Invasion der Herzen, bei der das Blut Gottes fliesst
  • Zwischen einem Bund, der im Diesseits angesiedelt ist, und einem Bund, der in die Ewigkeit reicht
  • Zwischen einer Zeit, in der Gott sich weltlicher Machtmittel bedient, und einer Zeit, in der er mit vermeintlich Ohnmächtigen die Welt verändert.

In der Welt gilt nun einmal das Gebot der Stärke, der Kult der schieren Kraft. Als Blumenkinder-Kommune hätten die Israeliten nicht überlebt in einer Epoche, die zu den grausamsten der Weltgeschichte gehört. 

Als dunkle Zeit gelten die Jahre zwischen dem Niedergang der Bronze-Weltmacht Ägyptens und dem Aufstieg neuer Imperien, die über Eisenwaffen verfügten, also ungefähr die Jahre 1200 bis 800.

  1. Aufstieg und Fall des Hauses David

Wie der Hirte Gyges im Ringgleichnis von Platon mit Macht nicht umgehen kann, so erliegt auch der Hirte David in vielen Momenten der toxischen Wirkung der Krone.

  1. Propheten: Lautsprecher und Liebesboten Gottes

Gut schlägt Gross.

Samuel: «Gehorsam ist wichtiger als Opferriten.» Hosea: «Ich habe Lust an der Liebe und nicht am Opfer!»

Aus den Prophetien des Hosea geht hervor, dass im Zentrum des Bundes zwischen JHWH und seinem Volk nicht Regeln und deren Erfüllung stehen, sondern eine Herzenshaltung, die für das Verhältnis von Gott und Menschen existentiell ist: Tatsächlich … Liebe. Er verspricht einen neuen Bund.

  1. Die erste Schoah und eine neue Hoffnung

Die babylonische Vorherrschaft ist nur von kurzer Dauer. Die neue Grossmacht heisst Persien, und deren König Kyrus erlaubt den Juden tatsächlich die Rückkehr und den Wiederaufbau. Der Relaunch beginnt verheissungs- voll. Israel 2.0 hat, wie nach dem Auszug aus Ägypten, keinen König mehr, versinkt aber anders als damals nicht im Chaos.

  1. Die Makkabäer: Mit Hammer und Eifer

Machtgier. 

  1. Pharisäer, Essener, Sadduzäer, Zeloten: Richtungskämpfe

Die Pharisäer versprachen: Wenn Israel die Verpflichtungen, die aus dem Bund mit JHWH hervorgingen, endlich einhalten würde – dann würde JHWH sein Volk wieder segnen, dann würde er endlich einen Retter schicken.

Ganz nahe bei dem, was Jesus später lehrte, war Hillel jedenfalls mit seinen Anmerkungen zum Herz der Tora.

  • Die Pharisäer setzten auf eine moralische Besserung der Gesellschaft, um dadurch den Segen Gottes zu garantieren.
  • Die Essener hatten den Grossteil der Gesellschaft und überhaupt der Welt abgeschrieben und bereiteten sich auf den Endkampf zwischen den Kindern des Lichts und der Finsternis vor.
  • Die Zeloten wollten vor allem in politischer Hinsicht reinen Tisch machen, die Ungläubigen aus dem Land vertreiben, einen eigenständigen Staat herbeikämpfen mit JHWH als uneingeschränktem Herrscher an der Spitze.
  1. Jona und Rut: Die Auserwählten und die Anderen

Im 3. Buch Mose wird nicht nur zur Nächstenliebe aufgerufen, sondern auch zur Fremdenliebe.

Der Liebling Gottes als Urenkel einer Moabiterin, ein Mischling. Wieder stellen sich viele Fragen: Warum steht das in der Bibel? Welcher Endredakteur hat dem Rut-Autor eine solche Paradoxie durchgehen lassen? Was soll das? Vielleicht dasselbe, was Jesus verdeutlichen wird: Die Regeln sind für die Menschen gemacht – und nicht die Menschen zur Erfüllung von Regeln und Prinzipien.

  1. Hiob: Ein Mann sieht Not

Falsche Zugänge zur Bibel erkennt man daran, dass sie rundum schlüssig sind. Denn die ganze Wahrheit kennt nur Gott – wir kennen lediglich Ausschnitte. Es sind unsere menschlichen Gehirne, die Symmetrie, Proportionali- tät und Kausalität bevorzugen. Doch die Realität schert sich nicht um unsere kognitiven Bedürfnisse. Die biblische Erzählung ist randvoll mit Wirklichkeit und ergo auch mit scheinbarer Widersinnigkeit. Je weiter die Geschichte von JHWH und seinem auserwählten Volk voranschreitet, umso mehr Fragen bleiben.

Welcher Logik folgt das Leben also, wenn Glück Glückssache ist und Gottes Handeln unbegreiflich? Warum soll man überhaupt an Gott glauben?

Neben der Ehrlichkeit zeichnet auch das die Psalmen aus: die Absage an Resignation und Nihilismus.

Man kann Gott nicht verstehen, sondern sich nur in seine Arme werfen.

Dieser Weisheit letzter Schluss hat bis heute nichts an seiner Relevanz eingebüsst. Der Mensch kann die göttliche Weisheit bestaunen. Er selbst kann das Absolute aber nicht verstandesmässig ergreifen, sondern sich ihm höchstens annähern, indem er Gutes tut und Liebe praktiziert.

  1. Die Welt ist nicht genug: Die Entdeckung des Jenseits . . . 

Philo geht davon aus, dass der biblische Schöpfungsbericht nicht wörtlich, sondern bildlich interpretiert werden muss. Genau wie Platon hält Philo die Materie und alles Körperliche für einen schwachen Widerschein der höchsten geistigen Wirklichkeit. 

JHWH als Mensch? Das konnte sich Philo beim besten Willen nicht vorstellen.

Himmel? Hölle? Kommt in der Tora nicht vor, auch nicht in den Geschichtsbüchern «Samuel», «Könige» und «Chronik».

Sokrates war überzeugt von einem Weiterleben nach dem Tod und davon, dass gute und böse Menschen dort die Früchte ihrer irdischen Taten ernten würden. 

Auch die Römer kannten sich im Jenseits aus. Im Versepos «Äneis» erzählt der Autor Vergil von zwei Wegen, die im Jenseits auseinander zweigen. Auf einem breiten Weg geht die Masse der Menschheit den ewigen Qualen im «Tartarus» entgegen, auf einem schmalen Weg gehen die wenigen Frommen ins paradiesische Elysium.

Die Juden erwarten einen Erlöser. Wenn auch einen ganz anderen als Jesus.

  1. Messias, Menschensohn, Melchisedek 2.0: Warten auf den Supermann

«Superman» ist eine deutsch-jüdische Erfindung. Das Wort geht auf den «Übermenschen» des protestantischen Pfarrerssohns Friedrich Nietzsche zurück. Ein paar Jahrzehnte nach seinem Tod, in den turbulenten Dreissiger- jahren des 20. Jahrhunderts, benutzten zwei jüdischstämmige Amerikaner die englische Übersetzung des Begriffs «Übermensch» als Name für ihre bahnbrechende Erfindung: «Superman».

All die Messias-Referenzen (der AT-Propheten) scheinen sich auf einen rein menschlichen Helden zu beziehen.

Daniel: Dieser Retter würde aussehen wie ein «Menschensohn». Er würde mit den Wolken des Himmels auf die Erde kommen und ausgestattet sein mit «aller Macht, Ehre und Reichtum, dass ihm alle Völker und Leute aus so vielen verschiedenen Sprachen dienen sollen. Seine Macht ist ewig und vergeht nicht; sein Reich hat kein Ende.»

Seine Herrschaft würde nicht nur eine militärische Dimension haben, sondern auch eine spirituelle.

In der «Messias-Apokalypse» (einige Jahrzehnte vor Jesu Geburt) steht über den Messias: «Er wird über die Armen seinen Geist ausgiessen und wird die Gläubigen mit seiner Kraft stärken. Er wird die Gefangenen befreien, die Blinden sehend machen und die Gebeugten aufrichten.»

Allerdings kann kein Jude sich vorstellen, dass dieser Supermann sich freiwillig zum Untermenschen macht und den Tod durch sein eigenes qualvolles Sterben besiegt.

Jesaja: Frohe Botschaft! «Auf dem Berg Zion wird der HERR, der allmächtige Gott, alle Völker zu einem Fest- mahl mit köstlichen Speisen und herrlichem Wein einladen, mit bestem Fleisch und gut gelagertem Wein.» 

Dass der leidende Gottesknecht und der Messias ein und dieselbe Person sind, geht aus dem «Buch Jesaja» nicht eindeutig hervor. Der Gegensatz schien zu schroff, ein schwächelnder Supermann, ein Widerspruch in sich, der Gedanke an einen gekreuzigten Christus beinahe blasphemisch.

Habakuk: «Wie das Wasser die Meere füllt, so wird die Erde einmal erfüllt sein von der Erkenntnis der Herrlichkeit des HERRN.»

Gleichzeitig bereitete Gott Habakuk und alle erlösungshungrigen Israeliten auf eine längere Wartezeit vor: «Was ich dir offenbare, wird nicht sofort eintreffen, sondern erst zur festgesetzten Zeit. Aber es wird sich ganz bestimmt erfüllen, darauf kannst du dich verlassen. Warte geduldig, selbst wenn es noch eine Weile dauert!»

600 Jahre später war es endlich so weit. Gott schickte den angekündigten Retter. Aber auf eine Weise, die niemand erwartete.

Zusammenfassung von Viktor

Es gibt wenige Hinweise im AT über ein ewiges Leben oder eine Vergeltung im Jenseits

Bei den Propheten lernen wir, dass im Zentrum des Bundes zwischen JHWH und seinem Volk nicht Regeln und deren Erfüllung stehen, sondern eine Herzenshaltung, die für das Verhältnis von Gott und Menschen existentiell ist: Liebe. 

Wir sehen auch eine wachsende Erwartung eines Erlösers. Dass er aber als sterbender Schwächling hierherkommt, kann niemand sich vorstellen.

Fragen zur Diskussion

1. Warum kommt die geistliche/jenseitige Dimension des Lebens im AT kaum vor?

2. Wie konnten vorchristliche Juden, wie der Autor des «Messias-Apokalypse», und sogar heidnische Philosophen, wie Platon, Sokrates oder Philo, eine so klare Vorstellung haben, wie der Erlöser sein sollte?

3. Ist Gott unverständlich?

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