Jesus – eine Weltgeschichte VIII

Kreuz und Krone

Für Jesus wäre es eigentlich ein Gebot der politischen Klugheit, sich an diesem Passafest von Jerusalem fernzuhalten.

  1. Die Mühen der Ebene: Auf dem Weg nach Jerusalem

«Wer nicht gegen uns ist, der ist für uns.»

Jüngersein heisst, beim Dienen und Helfen vorne zu sein, nicht beim Kommandieren und Reklamieren.

Er wird sie alleine lassen, erwartet aber, dass sie sich bis zu seiner Wiederkunft weiter für das Reich Gottes einsetzen – mit den Gaben, die Gott ihnen gegeben hat.

Sein Sieg ist sicher. 

Nachfolge ist nichts für Routine-Verliebte und Risikoscheue.

Morija. Der Stammvater Abraham soll dorthin gezogen sein, um auf Gottes Geheiss seinen einzigen Sohn Isaak zu opfern. Damals ging «der Engel des Herrn» dazwischen und verhinderte die Opferung. Für seinen Gehorsam versprach Gott Abraham, dass durch seine Nachkommen «alle Völker auf Erden gesegnet» werden sollen. Diese Verheissung wird sich in Jesus erfüllen.

  1. Rangstreitigkeiten: Die Jünger begreifen immer noch nichts

Welche Prämie stellt Jesus ihnen dafür in Aussicht, dass sie alles für ihn verlassen haben? Die ehemaligen Fischer, Beamten, Kleinunternehmer sind keine religiösen Träumer. Sie haben konkrete Zukunftserwartungen. Wenn schon nicht dieses Leben hier, dann soll wenigstens das jenseitige Leben paradiesisch werden.

Wer die Macht hat, nutzt sie rücksichtslos aus. Aber so darf es bei euch nicht sein. Im Gegenteil: Wer gross sein will, der soll den anderen dienen. Und wer der Erste sein will, der soll sich allen unterordnen.

  1. Das siebte Zeichen und der Einzug in Jerusalem

Jedes darauffolgende Wunder ist spektakulärer als das vorherige. 

Er bittet laut um Gottes Hilfe. Dann spricht er die berühmten Worte: «Lazarus, komm heraus!»

Die Jünger triumphieren innerlich. Die von ihnen insgeheim erhoffte Eroberung von Jerusalem, dann von Judäa, schliesslich von der ganzen Welt, ist nun auf einmal wieder eine ganz realistische Option.

Jesus sagt, dass man soziale Anliegen und spirituelle Bedürfnisse nicht gegeneinander ausspielen soll.

«Hosianna» ist kein Jubelruf. Was die Jünger singen, bedeutet: «Greif ein und sorge für klare Verhältnisse. Du bist schliesslich der Messias, der neue König der Juden.»

Jesus weint über Jerusalem.

Es ist der erste Tag der letzten Woche der alten Welt.

  1. Der Tempel bebt: Jesus geht in die Offensive

Für die Händler im Tempel ist das Passafest wie heute Weihnachten für Spielzeugverkäufer. In diesen Tagen machen sie mehr Umsatz als im Rest des Jahres zusammen. Entsprechend legen sie sich ins Zeug, werben, rufen, feilschen.

Jesus erinnert an die Absicht JHWHs, Israel zum Licht für alle Völker zu machen. Er wendet sich gegen die Nabelschau der religiösen Eliten.

Jesus stellt mit seiner Aktion den Tempelbetrieb insgesamt in Frage.

Der verfluchte Feigenbaum. Es ist die einzige Strafaktion, die im Neuen Testament von Jesus berichtet wird. Und sie richtet sich nicht gegen einen Menschen, sondern gegen eine Pflanze. … Er benutzt den Baum als Sinnbild für Israel, das seine ursprüngliche Mission, «Licht der Völker» zu sein, vergessen hat. So fruchtlos wie der Feigenbaum ist der ganze Tempelbetrieb.

Gebt Gott euch selbst.

Bisher hat sich Jesus nur verklausuliert ausgedrückt. Doch in der folgenden Rede greift er die theologischen Experten frontal an. In heiligem Zorn feuert er eine verbale Breitseite nach der anderen ab: «Ihr bindet den Menschen tonnenschwere Gewichte auf den Rücken, aber selbst rührt ihr keinen Finger!»

Jesus mahnt zur Geduld. Und kündigt seine Wiederkunft an. Und fügt hinzu, dass nicht einmal er selbst die genaue zeitliche Abfolge der Ereignisse kennt.

Judas erfüllt diese Prophetie unbewusst. Er verrät Jesus für den Preis eines toten Sklaven. So wenig wert ist ihm der Lehrer und Freund.

  1. So schmeckt Liebe: Das Abendmahl

Die Jünger haben immer noch nicht verinnerlicht, was Jesus ihnen seit drei Tagen beizubringen versucht hat. Dass oben und unten keine Kategorien sind, die im Reich Gottes gelten.

Die Szene ist nicht nur für die Jünger unerhört, sondern in der gesamten antiken Literatur und Geschichts- schreibung ohne jede Parallele. Menschen waren nach heidnischer Vorstellung überhaupt nur zu dem Zweck auf der Welt, die Götter zu bedienen. Jesus kehrt die Rollen um. Der Mann, der vier Tage zuvor noch als König in Jerusalem eingeritten ist, verrichtet den niedrigsten Dienst überhaupt. Ein modernes Äquivalent wäre ein Staatspräsident, der bei einem Staatsbankett den Toilettendienst übernimmt.

Das Abendmahl ist kein trauriger Abschiedssnack, sondern ein Freudenmahl.

Er wird den Tod für immer und ewig vernichten. Gott, der HERR, wird die Tränen von jedem Gesicht abwischen.

Jesus sagt zu Petrus: «Ich habe für dich gebetet, dass du nicht den Glauben verlierst. Wenn du dann zu mir zurückgekehrt bist, so stärke den Glauben deiner Brüder!»

«Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe.»

  1. Wie ein Schwerkrimineller: Jesus in Ketten

Jesus ist so stark, dass er seine Schwäche nicht verheimlichen muss.

Jesus schwitzt Blut. Das zeigt, wie viel Furcht er vor den physischen und psychischen Schmerzen hat.

Das letzte Heilungswunder, das von Jesus berichtet wird, gilt einem Feind.

  1. Justizfarce: Jesus vor dem Hohepriester

Während des Verhörs bleibt Jesus passiv. Der Mann, der mit seiner Stimme riesige Massen begeistert hat, fleht nicht eloquent um sein Leben. Er lässt den Dingen ihren bösen Lauf.

Jesus wehrt sich nicht.

Judas weint nicht. Er wird nicht von seinen Gefühlen überwältigt, weil es zwischen ihm und Jesus nie eine innere Verbundenheit gab. Er hat Jesus bewundert, sich von ihm Vorteile erhofft, aber ihn nicht geliebt. Er hat sich Jesus aus Berechnung angeschlossen, vielleicht auch aus hohen Idealen. Er hat ihn verraten, weil es sich für ihn finanziell lohnte oder weil die Jesus-Bewegung realistisch gesehen keine Erfolgschance hatte. Nun steht er vor dem Nichts, in den er verschwindet.

  1. «Zum Kreuz»: Jesus bekommt die Maximalstrafe

Pilatus baut Jesus jede Brücke, gibt ihm jede Möglichkeit, sich herauszureden. Aber Jesus nimmt das Angebot nicht an. Es scheint fast, als hätte er sein Todesurteil schon innerlich akzeptiert.

Die Wortlosigkeit des Messias fasziniert bis heute.

Jesus bleibt sich bis zuletzt treu. Er wirft keine Perlen vor die Säue, verschwendet keine Energie an kalte Herzen. Er predigt jahrelang unter freiem Himmel vor gesellschaftlichen Randexistenzen, um nun in den Villen der Prominenten zu verstummen.

Es ist das religiöse Establishment, das Jesus unbedingt am Kreuz krepieren sehen will.

  1. Via Dolorosa: Eine Thronbesteigung

Die Kreuzigung ist auf die Spitze getriebene Unmenschlichkeit.

  1. Golgatha: Gott rechnet mit sich selbst ab

Anders als bei Isaak schickt Gott keinen Engel vom Himmel, der die Soldaten stoppt.

Athanasius behauptet: «Nur am Kreuz stirbt man mit ausgespannten Armen. Daher musste der Herr gerade diesen Tod erdulden und die Arme ausspannen, um mit dem einen das alte Volk, mit dem anderen die Berufenen aus der Heidenwelt an sich zu ziehen und beide Teile in sich zu verbinden.»

Was für ein Ende, vor allem verglichen mit den Toden, die von den Begründern des Islam und des Buddhismus erzählt werden. Mohammed starb angeblich im Schoss seiner Lieblingsfrau, Siddhartha Gautama im Kreis seiner Anhänger, beide lebenssatt und nach erfolgreicher Mission. Jesus stirbt den Tod eines verbrecherischen Sklaven. Neben ihm röcheln zwei Terroristen ihr verpfuschtes Leben aus. 

Platon hatte Recht. Die Menschen ertragen das absolute Gute nicht. Sie müssen es eliminieren.

In diesem höhnenden Lockruf schwingt eine satanische Versuchung. Bis zuletzt provoziert der Teufel den Gottessohn.

«Er wurde verachtet […]. Es war unsere Krankheit, die er auf sich nahm; er erlitt die Schmerzen, die wir hätten ertragen müssen.»

Die letzten Worte Jesu:

  1. Es fällt auf, was Jesus nicht von sich gibt: keine Flüche, keine Racheschwüre. Stattdessen bittet Jesus: «Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.»
  2. «Ich verspreche dir: Noch heute wirst du mit mir im Paradies sein.» Keine Höllendrohung, sondern eine Paradies-Einladung. Mit seinem Tod stösst er die Himmelstür weit auf – und ein Mörder darf als Erster hinein.
  3. «Er ist jetzt dein Sohn», sagt er zu Maria. Und zu dem Jünger: «Sie ist jetzt deine Mutter.» Er kümmert sich nicht nur darum, die Menschen mit Gott zu versöhnen. Er bringt auch die Verhältnisse der Menschen untereinander ins Lot.
    Mit der Kreuzigung hat Jesus tatsächlich den Sieg errungen, die Gottesherrschaft hergestellt, alles zum Besten bestellt.
  4. Etwa um drei Uhr nachmittags, verschafft Jesus seiner inneren Not Luft: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» 
  5. «Ich habe Durst!» Mit dem Ausruf erteilt Jesus allen nachträglichen Spekulationen eine Absage, die ihm eine göttliche Schmerz-Unempfindlichkeit attestieren. Sein Organismus funktioniert nach rein menschlichen Prinzipien, auch am Kreuz. 
  6. «Es ist vollbracht!»
  7. «Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.»

Die Erde beginnt zu beben. Der Vorhang im Tempel-Allerheiligsten zerreisst von oben bis unten. Von nun an gibt es freien Zugang – für Priester und Laien, für Juden und Nicht-Juden, für Männer und Frauen.

  1. Aus Liebe. Und andere Gedanken zum Kreuz

Die Kreuzigung ist der Ziel-, Kristallisations- und Fluchtpunkt des Universums und der Weltgeschichte.

Es ist bezeichnend, dass Jesus nicht am Versöhnungsfest («Yom Kippur») gekreuzigt wurde, bei dem es um die Sühne der menschlichen Schuld geht, sondern am Passafest, bei dem die Verschonung vom Tod und der Aufbruch in ein neues Leben im Vordergrund stehen. Beim Versöhnungsfest geht es um Bezahlung und Kompensation, beim Passafest um Befreiung.

Anselm von Canterbury meinte, nur der Kreuzestod Jesu konnte den gerechten Zorn Gottes über die menschliche Sünde besänftigen: «Folglich ist es notwendig, dass entweder die weggenommene Ehre Gottes wiederhergestellt wird – oder die Strafe erfolgt.» Gott stellte seine eigene Ehre dadurch wieder her, dass er seinen Sohn bestrafte.

Abaelard sah in dem Kreuzestod den grösstmöglichen Ausdruck der göttlichen Liebe und einen Ansporn für die Menschen, das Gute in die Welt zu tragen: «Unsere Erlösung ist die Liebe, die Jesus uns durch die Passion schenkt und dadurch in uns weckt. Diese Liebe hat uns nicht nur von der Versklavung in die Sünde befreit, sondern uns die wahre Freiheit als Kinder Gottes beschert, so dass wir nicht aus Furcht, sondern aus Liebe seinen Auftrag ausführen.»

Worte und Taten stimmten bei Jesus überein.

Hat Gott, der Sohn, am Kreuz für unsere Sünden gebüsst? Perfekte Gerechtigkeit hergestellt? Das Böse besiegt? Das Tor zur Ewigkeit aufgestossen? Uns die Grösse seiner Liebe demonstriert? Uns ein Vorbild gegeben, an dem wir uns orientieren sollen?

Jesus leidet mit allen Geplagten und erlöst sie zugleich.

Der Baum des Todes verwandelt sich auf Golgatha in einen Baum des Lebens, das Passafest in das grosse Versöhnungsfest, mit dem das ewige Jubeljahr beginnt und die Gläubigen ein für alle Mal von der schuldhaften Verstrickung in ihre Selbstsucht erlöst werden.

Hätte Gott das Böse nicht auf anderem Weg besiegen können? Kann ein allmächtiger Gott nicht einfach so vergeben? 

Gott ist die Liebe, und die Liebe drängt zur Tat und zu einer Selbstentleerung (griechisch: «Kenosis»), die wieder neues Leben generiert. Schöpfung und Erlösung ergeben sich gleichermassen aus dem göttlichen Wesen. Die göttliche Liebe sprengt unsere Denkdimensionen und natürlich auch juristische Kategorien von Schuld und Sühne.

Aus menschlicher Sicht ist der Kreuzestod Jesu ein alternativloses Angebot Gottes. Es ist für uns im wahrsten Sinne des Wortes notwendig. Alleine das Kreuz wendet die Not der Menschen. 

Gott handelt, statt zu erklären.

Dem Terroristen wird der Zugang ins Paradies erst versprochen, als er darum bittet.

Gott erwartet keine Gegenleistung. Er will nur unser «Ja» zu dem Liebesbund, den er uns anbietet.

  1. Totenstille: Der Tag dazwischen

So wie er geboren wurde, so wird Jesus begraben: nicht im familiären Umfeld, sondern auf fremdem Grund und Boden. Ein Heimatloser, ein Fremdling, ein Aussenseiter vom Anfang bis zum bitteren Ende.

Sie sind am Nullpunkt angekommen, psychisch und moralisch. Der Mann, den sie für den Messias hielten, war ganz zweifellos gescheitert

Zu welchen Geistern ging Jesus? Verbreitet war die Ansicht, dass er vorbildlichen Nicht-Juden wie Sokrates das Tor zum Himmel öffnete.

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