Heinzpeter Hempelmann versteht den philosophischen Wandel von der Moderne zur Postmoderne sehr gut. Gründlich analysiert er die jeweiligen Annahmen, Auswirkungen, und Streitpunkte. Der Untertitel “Christlicher Wahrheitsanspruch vor den Provokationen der Postmoderne” macht aber klar, dass es ihm um mehr als reine Analyse geht. Die Postmoderne stellt die christliche Sicht der Dinge in Frage, und er will sie plausibel verteidigen, was sehr schwierig ist in einer Welt, die die Idee von Wahrheit und den Wert rationales Denkens verworfen hat.
Einige bemerkenswerte Aussagen
- “Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht Grüfte und Grabmäler Gottes sind?” – so fragte einst Friedrich Nietzsche. “Gott ist tot” – das Individuum wird zum Absoluten
- Die Moderne:
- denkt in wahr/unwahr, gut/böse
- ist überheblich, fördert Kritik
- der Rationalismus, der Humanismus ist gescheitert – sie führen zu grausamen Absolutismus (S. 188-9)
- Die Postmoderne:
- Es gibt weder Fundament noch Über-Ich; Horizontverlust; ein Gottesstandpunkt gibt es nicht
- Der Vernunft wurde entthront
- Wahrheitspluralismus herrscht
- Der Mensch wird zum eigenen Gott; Selbst(er)findung? Subjektivierung des Glaubens
- Konfessionelle Spiritualität ist ‘mega-out’
- Nur eine Selbst-, keine Weltbeschreibung ist möglich
- Der christliche Wahrheitsanspruch wird als Anachronismus gesehen
- Wir können christliche Werte nicht begründen, jedoch plausibilisieren
- praktizierte Vergebung, Versöhnung, erlebte Geborgenheit sind Evidenz des Evangeliums
- Das Evangelium
- universal gültig aber ohne diktatorische Ansprüche
- die Kirche ist das Integral (der Zusammenschluss) verschiedenster Lebensstile
- ein “schwaches Wort”
- Befreiung von der Last, ein ‘Gott’ sein zu müssen
- Wertewandel als Chance / verheerender Toleranzbegriff
- Kap 3: Erlebnisorientierung und Erfahrungsverlust
- Ich – Es -Mich – Du – Ichverlust – Identität – “schwaches Subjekt”
- “Existiert nicht allein das ‘Es’, der Mensch mit seinen Trieben, Bedürfnissen, Wünschen,… Sinnlichkeit?” (S. 140)
- “die Wille zur Macht… fressen und nicht gefressen werden… andere zu interpretieren und nicht von ihnen interpretiert zu werden” (S. 142)
- Jeder wird entweder zu einem ‘Gott’ oder ‘Götze’, oder dann zum Schlachtopfer
- eine integrierte Identität finden wir nur bei Gott
- nur gegenüber Gott dürfen wir schwach sein (S. 169f)
- Martin Luther: “sola experimentia facit theologum”: oratio, meditatio, tentatio
- Gott-Vater – gesellschaftliche und schöpferische Ordnungen – ‘ oratio’
- Gott-Sohn – Jesus – Wort – ‘meditatio’ = Praxis
- Gott-Hl. Geist – Sakramente, Kirche – ‘tentatio’
- “Ich darf sein, obwohl ich mein Leben verwirkt habe, weil ein anderer mir sagt: Du darfst/sollst leben.” – Vertrauen auf Christus
- “Wenn Gott mit meinen Sünden leben kann, dann kann und darf ich das auch”
- Kap 4: Wie können Werte begründet werden? Gibt es Kriterien für Ethik?
- Aus ‘Sein’ (Tatsachen) kann kein ‘Sollen’ (Ethik) eruiert werden (S. 191f)
- Humanität ohne Divinität endet in Bestialität (S. 204)
- Ich, als Ebenbild Gottes, bin für die Mitgeschöpfe verantwortlich! (S. 206)
- Jesus – Mensch gewordener Gott – tritt in das leerstehende Bildnis Gottes ein (S. 208)
- Die griechische und die judäo-christliche Weltanschauungen sind unterschiedlich; letztere sieht die ganze Welt als Kreatur (S. 216)
- Kap 5: Monotheismus als arrogant, richtend, Wurzel allen Übels – veranschaulicht durch das Buch “Tod eines Kritikers” von Martin Walser
- Aber Jesus ist nicht so!
- nur bei Gott fallen Liebe und Wahrheit so zusammen, dass wir leben können (S. 256)
- Kap 6: die ‘Mosaische Unterscheidung’ (zwischen wahrer und falscher Religion) als Ursache von Intoleranz, Ausgrenzung und Gewalt (Jan Assmann)
- Pluralismus, Polytheismus, Kosmotheismus sind aber nicht toleranter/friedlicher als Monotheismus!
- Der Alleinherrschaftsanspruch des leidenden Gottesknechts (S. 263)
- Gottesebenbildlichkeit als einziger Grund der Würde des Menschen (S. 281)
- Nur die Mosaische Unterscheidung erlaubt einen gesunden, realistischen Weltumgang, wo Sein und Sollen auseinander gehalten werden, und führt zu der Hoffnung: Das Recht des Stärkeren ist nicht per se gerecht!
- Kap 7: Der Gott ohne Souveränität
- Gott löst unser Problem der Spannung zwischen Macht und Opfer sein, Sein und Sollen, Würde und Versagen, indem er sich nicht als dominanten, richtenden Herrscher offenbart, sondern als liebendes, dienendes, sich schlachten lassendes Lamm (S. 292-3)
- “Die Kernspaltung von Recht und Macht in der kenotischen (sich leerenden) Kondeszendenz Gottes in Jesus Christus” (S. 292)
Seine Aufgabe war schwierig. Seine Lösung auch! Ich hatte zT grosse Mühe, seine seitenlange, mehrmals verschachtelten, voller eigens erfundenen Begriffe und weithergezogenen Bezüge zu anderen klassischen und aktuellen Autoren, wovon ich nie gehört hatte, auch bei der dritten Lesung und nach reichlichem Nachforschen im Internet verwirrenden Sätze einigermassen beziehungsweise mindestens – so hoffe ich – sinngemäss zu verstehen. Ihr versteht, was ich meine.
Der Sinn ist ja auch relativ, von dem her kannst du das Buch getrost verstehen, wie du willst 🙂 Aber der Vorschluss-Satz fasst es wohl gut zusammen.
Man sagt, das Buch bestehe eigentlich aus Abschreiben seiner Vorlesungen, vielleicht nicht einmal vom Autor selber redigiert. Das rechtfertigt nicht die Unlesbarkeit, erklärt sie aber vielleicht…