Eindrücke einer Seelenwanderung

Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt, von Usama Al Shahmani

Anders als der Vogel im Titel, zweifelt Dafer Schiehan, die Hauptfigur der Geschichte, immer wieder am Sinn und Zweck seiner Flucht aus dem Irak. Als vorläufig aufgenommener Asylbewerber hat er sich in der Schweiz gut eingelebt – hat die Sprache gelernt, einen Job gefunden und Freunde gewonnen – doch seine Gedanken schweifen immer wieder zurück in seine Heimat, in seine Kindheit, in seine Studienzeit …

Dieses Buch ist eher eine Sammlung emotionaler Momentaufnahmen als eine Geschichte mit Anfang, Spannungsbogen und Ende. Wir erfahren mehr über Dafer’s Vergangenheit, vor allem über seine Empfindungen und Sehnsüchte. In seinem aktuellen Leben hat er viel Bequemlichkeit, viel Freiheit und viel Freizeit. Aber was ist das schon im Vergleich zu seinen Wurzeln: der eigenen Familie, echten Freunde, einer vertrauten Kultur. Zwar ist jene Gesellschaft seit Jahren von religiösen und militärischen Konflikten zerrissen, aber sie ist trotzdem seine Heimat.

Würdigung

Al Shahmanis Schreibstil ist fast poetisch, mit bildhaften Wahrnehmungen und tiefgründigen Gedanken, wunderschön geschrieben. Ein Beispiel:

Ein Graureiher, der am anderen Ufer steht, schaut ihn an. Das Tier sieht aus wie ein stiller Erzähler, der ihn zu fragen scheint: Was machst du hier, Fremder? Er hat ein Bein vom Boden hochgezogen, als wolle er selbst nur mit einem Bein zur Welt gehören.

Aber nicht alle seiner Gefühle in waren schön:

Plötzlich standen ihm Bilder und Fragmente seines beschädigten Lebens im Irak vor Augen. Er hatte die schönsten Jahre seines Lebens unter der Last der Kriege vergeudet, aber er hätte nie gedacht, dass die härtesten Tage in Bagdad ihm eines Tages besser erscheinen würden als diese hier in Europa. Er wusste überhaupt nicht mehr, was er hier sollte. Europa, sein Traum von Freiheit, endete in einem Bunker mit albtraumhafter Atmosphäre?

Als Leser wartet man vergeblich auf einen Abschluss der Geschichte. Aber so wie das Leben ist, bleibt auch Dafer’s Geschichte unvollendet.

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